Archivmeldung der Rathauskorrespondenz vom 27.11.1997:
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1.000 Besucher bei Wiener Vorlesung im AKH

Wien, (OTS) Mittwoch abend fand im Neuen AKH eine "Wiener Vorlesung" zum Thema "Krisen und Zäsuren im Lebenslauf" statt. Fast 1.000 Besucher kamen zu dieser Veranstaltung, die dem 20jährigen Jubiläum zweier wichtiger Wiener Institutionen, dem Kriseninterventionszentrum und dem Ludwig-Boltzmann-Institut für ...

Wien, (OTS) Mittwoch abend fand im Neuen AKH eine "Wiener Vorlesung" zum Thema "Krisen und Zäsuren im Lebenslauf" statt. Fast 1.000 Besucher kamen zu dieser Veranstaltung, die dem 20jährigen Jubiläum zweier wichtiger Wiener Institutionen, dem Kriseninterventionszentrum und dem Ludwig-Boltzmann-Institut für Sozialpsychiatrie, gewidmet war. Die Gründung dieser beiden Institutionen, die für Anamnese, Analyse, Therapie und Intervention krisenhafter psychischer Situationen stehen, war ein Wiener Markstein für eine neue humanistische Psychiatrie. Senatsrat Dr. Hubert Christian Ehalt dankt in seiner Einleitung namens der Stadt Wien Prof. Dr. Gernot Sonneck, dem Leiter des Kriseninterventionszentrums und Prof. Dr. Heinz Katschnig, dem Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für die engagierte und wichtige Arbeit im Bereich der Analyse und Entwicklung neuer patientenorientierter Umgangs- und Bewältigungsformen krisenhafter Situationen.

Den Festvortrag hielt die berühmte Psychotherapeutin, Prof. Dr. Verena Kast. Ehalt wies darauf hin, "daß die Gesellschaften bis vor wenigen Jahrzehnten ausdifferenzierte Ritualsysteme hatten, die die Menschen sicher durch das Leben geleiteten. Die Übergänge von der Kindheit in die Jugend, von der Jugend in den Erwachsenenstatus, in das Altern und in den Tod hatten feste und kollektiv akzeptierte Formen, die dem/der Einzelnen einen festen Halt in allen Lebenslagen gaben. Dieses massive Korsett war aber auch bedrückend, verhinderte Spontanität und Selbstverwirklichung und zwängte das einzelne Individuum in enge Klischees der Geschlechter- und Altersrollen. In den letzten Jahrzehnten wurden diese Korsette auseinandergenommen, und die Lebensläufe sind heute - wie die Soziologen sagen - selbstgebastelt". Prof. Verena Kast nannte in ihrem Vortrag das Leben heute ein experimentelles Leben. Sie zeigte, daß in den individualisierten Gesellschaften der Gegenwart Zäsuren vielfach als Krisen erlebt werden. Diese Krisen stürzen den/die Einzelne in schwierige und oft lebensbedrohliche Situationen. Zugleich - und dies erscheint neu - können Krisen auch als schöpferische Neuorientierungsphasen verstanden werden. Und es hängt, so Prof. Kast, davon ab, ob diese kreativen Möglichkeiten wahrgenommen werden. Prof. Kast legte den zahlreich anwesenden PsychotherapeutInnen die Frage ans Herz, wie das Selbstwertgefühl der Menschen ganz generell stabilisiert werden kann: "Die Frage nach der alltäglichen Stabilisierung des Selbstwertgefühls ist eine sehr wichtige Frage, denn davon hängt der Umgang mit Angst und Aggression ab, davon hängt auch ab, ob wir den Anforderungen an eine flexible Identität genügen können, und die Menschen müssen darauf hingewiesen werden, daß sie darin eine große Kompetenz haben."

Die Wiener Vorlesung mit Prof. Dr. Verena Kast wird im Frühjahr 1998 in der Reihe "Wiener Vorlesungen im Rathaus" im Picus Verlag erscheinen.

Die letzte Wiener Vorlesung vor Weihnachten findet am Dienstag, dem 2. Dezember, um 19 Uhr, im Festsaal des Wiener Rathauses statt. Frederic Morton spricht zum Thema "Wien und New York im Vergleich. Erfahrungen und Beobachtungen eines Grenzgängers". (Schluß) red/bs

(RK vom 27.11.1997)