Archivmeldung der Rathauskorrespondenz vom 17.12.1998:
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Wiener Gemeinderat (8)

Wien, (OTS) GR Susanne Jerusalem (G) begründete die Dringliche Anfrage. Es gebe drei akute Probleme, die Wien sofort lösen müsse und könne. Die "Sandler" würden immer restriktiver aus dem öffentlichen Raum vertrieben. Die Armen würden ausgesperrt, damit sie niemand sieht. Die ÖBB, die Wiener Linien und " ...

Wien, (OTS) GR Susanne Jerusalem (G) begründete die Dringliche Anfrage. Es gebe drei akute Probleme, die Wien sofort lösen müsse und könne. Die "Sandler" würden immer restriktiver aus dem öffentlichen Raum vertrieben. Die Armen würden ausgesperrt, damit sie niemand sieht. Die ÖBB, die Wiener Linien und "Privatsheriffs" verschärften die Gangart. Sitzbänke würden entfernt, damit die Obdachlosen keine Sitzmöglichkeit haben. Viele Obdachlose hätten "Schwarzfahrer-Schulden" bei den öffentlichen Linien. Die Verwaltungsstrafen würden im Gefängnis abgesessen, manche Obdachlose hätten bereits bis zu 80.000 und 100.000 Schilling Schulden bei den Verkehrsbetrieben, damit sei eine Resozialisierung unmöglich. Diese "Schuldenfalle" bezeichnete Jerusalem als kafkaesk. Im Gegensatz zu Dauerleistungsempfängern, sie erhalten monatlich 7.692 Schilling, haben Sozialhilfeempfänger, sie erhalten 4.945 Schilling, keinen Anspruch auf eine ermäßigte Monatskarte. Wien sei eine reiche Stadt, da müsse es möglich sein, mit dem Problem der Obdachlosigkeit fertig zu werden, noch dazu, da die Situation in Wien nicht so schlimm sei wie in anderen europäischen Städten.

Bgm. Dr. Michael Häupl (SPÖ) stellte in seiner Antwort fest, daß sich die Maßnahmen der Stadt quantitativ als auch qualitativ positiv ausgewirkt hätten. In den letzten 10 Jahren sei ein beachtlicher Rückgang der Anzahl der Obdachlosen zu verzeichnen. Auch während der kalten Jahreszeit gebe es keine Engpässe bei der Unterbringung. Nach Schätzungen der Experten gibt es derzeit ca. 800 bis 1.000 Personen, die als Obdachlose tatsächlich auf der Straße leben und trotz freier Kapazitäten Unterbringungsmöglichkeiten nicht in Anspruch nehmen. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Betreuungsplätze habe sich auf rund 3.330 erhöht. Die Behauptung, daß bei steigender Tendenz in Wien mehr als 5.000 Obdachlose lebten, sei falsch.

Zu den einzelnen Fragen der Grünen sagte Häupl, er stehe zum Wiener Landessicherheitsgesetz, wonach aggressives Betteln bzw. unzumutbare Belästigungen verhindert werden sollen. Aufgrund des Hausrechtes habe jede natürliche oder juristische Person das Recht, Eigentum zu schützen oder Personen wegzuweisen. Er werde sich auch nicht dafür einsetzen, daß die Wiener Linien Sitzbänke für Obdachlose aufstellen, weil es nicht das Ziel der Obdachlosenbetreuung sein könne, obdachlose Menschen auf Sitzbänken in U-Bahn-Stationen unterzubringen. Eine Differenzierung und unterschiedliche Behandlung von Schwarzfahrern, die obdachlos sind, und Schwarzfahrern, die anderen sozialbedürftigen Gruppen angehören, könne er nicht vertreten. Eine Weihnachtsamnestie für Obdachlose, die Schulden bei den Wiener Verkehrsbetrieben hätten, könne er nicht empfehlen. In den verschiedenen Einrichtungen gebe es derzeit rund 3.330 Übernachtungsmöglichkeiten für Wohnungslose. Mit Stichtag 15. Dezember habe es 300 freie Kapazitäten gegeben. Es bestehe daher kein Bedarf, die Poliklinik im 9. Bezirk zur Verfügung zu stellen. Der Bereich Südtiroler Platz werde regelmäßig von SozialarbeiterInnen betreut. Im Rahmen des territorialen Beschäftigungspaktes werde ein zielgruppenspezifisches Ausbildungsprogramm für Obdachlose entwickelt. Die Stadt Wien biete allen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, Beratungen in verschiedensten Einrichtungen an, und aus humanitären Gründen gebe es von 1. Dezember bis 6. Jänner keine Delogierungen im Bereich der Gemeindewohnungen.

Debatte über die Dringliche Anfrage

GR Mag. Alexandra Bolena (LIF) forderte einen Delogierungsstop für die Wintermonate. Der Bürgermeister sei auf die dargestellten Probleme nicht eingegangen. Manche Einrichtungen der Gemeinde Wien, wie etwa die Meldemannstraße, würden von den Betroffenen nicht gerne in Anspruch genommen, dort gebe es Acht- Bett-Zimmer und "Aufseher". Wer die bürokratischen Hürden für eine längere Aufnahme in der Meldemannstraße bewältige, sei auch bald in der Lage, sich selbst eine Wohnung zu besorgen. Es gebe keine Differenzierung in der Betreuung. Obdachlose hätten keine Chance auf einen Arbeitsplatz und auf Resozialisierung, auch wenn sie einen Arbeitsplatz suchen und wollen. Bolena verwies auf die triste Situation obdachloser junger Frauen. Man sehe diese wenig auf der Straße, da sie sich "eine Unterkunft erschlafen".

StR. Dr. Friedrun Huemer (G) meinte, sie fühle sich durch die Antwort des Bürgermeisters beschämt. Es gehe um ein Problem, das nur wenige treffe, und das auch zu lösen sei. Man brauche nicht über die Zahlen streiten. Der Personenkreis der von Obdachlosigkeit Betroffenen habe sich in den letzten Jahren entschieden erweitert, viele jungen Menschen seien dazu gekommen, ebenso Frauen mit Kindern und geschiedene Männer. Nach zwei Sparpaketen und der Situation auf dem Arbeitsmarkt geraten immer mehr Menschen in die Armutsfalle. Huemer bedauerte, daß die soziale Treffsicherheit nicht gegeben sei, Sozialhilfeempfänger und Dauerleistungsbezieher müßten gleich behandelt werden. Das "Wegweisen von Armen" sei keine Sozialpolitik. Wien sei eine der reichsten Regionen Europas und müsse sich die Beseitigung der Obdachlosigkeit leisten können. Jährlich würden 500 Millionen Schilling für die Garagenförderung zur Verfügung gestellt, "damit die Autos im Winter im Warmen stehen", mit viel weniger Geld könnten auch die Obdachlosen "im Warmen stehen". (Forts.) fk/vo

(RK vom 17.12.1998)