FGM-Beirat der Stadt Wien: Neue Handlungsempfehlungen zu weiblicher Genitalverstümmelung

Österreichweit erste Empfehlungen für medizinische Versorgung und Geburt – Mit Know-how der FGM-Spezialambulanzen an drei Wiener Kliniken

11.000 Frauen in Österreich sind von weiblicher Genitalverstümmelung bzw. Beschneidung (Female Genital Mutilation/Cutting) betroffen - davon 6.300 in Wien. Die Betreuung dieser Patientinnen verlangt Ärzt*innen, Hebammen und psychosozialen Betreuerinnen besonderes Fachwissen und Kultursensibilität ab. Anlässlich des Internationalen Tags gegen Genitalverstümmelung am 6. Februar veröffentlicht der FGM-Beirat der Stadt Wien neue Handlungsempfehlungen.

Gute Vorbereitung erspart Kaiserschnitt

Die Handlungsempfehlungen enthalten klinisches Know-how rund um Schwangerschaft, Geburt und medizinisches Management von Folgekomplikationen wie Fisteln, Harnverlust oder Problemen beim Menstruieren. Es wird erklärt, welche Fragen im Anamnesegespräch zu stellen sind und warum eine geschulte Dolmetscherin beizuziehen ist. Erläutert werden auch folgende Fragen: Welche operative Therapie ist individuell für die Patientin empfehlenswert? Warum sollte eine operative Maßnahme immer auch psychologisch nachbetreut werden? Warum ist die Begutachtung von Minderjährigen besser spezialisierten Zentren anzuvertrauen?

Die verbreitete Annahme, FGM-betroffene Frauen müssten per Kaiserschnitt entbunden werden, stellen die Autorinnen richtig: Wird bereits bei der Geburtsanmeldung gezielt nach FGM gefragt, lässt sich eine Spontangeburt gut vorbereiten - etwa, indem vor oder während der Geburt eine Öffnung des Narbengewebes durchgeführt wird. Wichtig ist, dass Gynäkolog*innen im Eltern-Kind-Pass das Vorliegen von FGM bei einer Schwangeren festhalten. Nach Geburt eines Mädchens sind die Eltern unbedingt über das Verbot weiblicher Genitalverstümmelung sowie über die gesundheitlichen Folgen aufzuklären.

Multidisziplinäre Autorinnen

Kompakt behandelt werden außerdem die soziokulturellen Aspekte von FGM, die psychischen Folgen des traumatisierenden, häufig verdrängten Beschneidungsvorgangs und die Handhabung von Melde- und Anzeigepflichten. Fachkräften, die wenig Erfahrung haben mit dieser Patientinnen-Gruppe, wird empfohlen, sich an die im Anhang genannten spezialisierten Zentren zu wenden.

Die Autorinnen sind Gynäkologinnen, Hebammen und Expertinnen der Frauengesundheit. Die meisten gehören dem FGM-Beirat der Stadt Wien an. Koordiniert vom Wiener Programm für Frauengesundheit trifft der FGM-Beirat bereits seit 2007 zum regelmäßigen Austausch von Ärzt*innen, Hebammen, Frauengesundheitsexpertinnen und Vertreter*innen der Stadtverwaltung zusammen.

Stadtrat Hacker würdigt Wiener Pioniergeist

„Es ist kein Zufall, dass diese innovativen und vorbildlichen Angebote in Wien entwickelt wurden. Wir haben das Thema schon vor 20 Jahren aufgegriffen und im FEM-Süd eine erstsprachliche FGM-Beratung etabliert“, sagt Gesundheitsstadtrat Peter Hacker. „Engagierte Frauengesundheitsexpertinnen, Gynäkologinnen und Hebammen haben seither enormes Know-how aufgebaut, um betroffenen Frauen zu helfen. Dieses Wissen ist nun in den neuen Handlungsempfehlungen nachzulesen.“

Viele der FEM Süd-Klientinnen hatten medizinische Probleme und eine Zusammenarbeit mit den Krankenhäusern schien notwendig. Es folgten die Einrichtung einer FGM-Spezialambulanz in der Klinik Landstraße, an der Universitätsfrauenklinik des AKH Wien-MUW und in der Klinik Ottakring. „Ich bin stolz darauf, dass unsere Kliniken hier seit Jahren Vorreiterarbeit leisten - von der ersten österreichweiten FGM-Spezialambulanz 2009 bis zu den heute etablierten Strukturen in unseren Kliniken“, sagt Michael Binder, Medizinischer Direktor, Generaldirektion des Wiener Gesundheitsverbunds. „Der Wiener Gesundheitsverbund steht für eine medizinische Versorgung, die auf die individuellen Bedürfnisse aller Patient*innen eingeht. Frauen und Mädchen, die von FGM/C betroffen sind, finden bei uns individuelle Unterstützung und volles Verständnis für ihre Situation.“

Spezialwissen hilft FGM-betroffenen Frauen

„Die Handlungsempfehlungen vermitteln Wissen, das in Geburtsstationen, gynäkologischen und kinderärztlichen Praxen sowie in der Ausbildung noch nicht zur Routine gehört. Um FGM-betroffenen Frauen Stigmatisierung und Spießrutenläufe im Gesundheitssystem zu ersparen, teilt der FGM-Beirat der Stadt Wien seine Expertise mit der Fachöffentlichkeit“, sagt Alexandra Grasl-Akkilic, Koordinatorin des FGM-Beirats im Wiener Programm für Frauengesundheit.

Autorinnen über die Handlungsempfehlungen

Susanne Hölbfer, Gynäkologin und Leiterin der FGM-Spezialambulanz der Klinik Ottakring: „Im Gesundheitswesen sehen wir von FGM/C-Betroffene nicht täglich - wenn aber, ist die Überforderung, wie man mit ihnen umgehen soll, häufig groß. Hier werden die Empfehlungen helfen, schnell und unkompliziert Informationen zum kultursensiblen, medizinischen und rechtlichen Umgang griffbereit zu haben. Wir erhoffen uns, dass dadurch mehr von FGM/C-Betroffene erkannt, kompetent behandelt und an Zentren vermittelt werden, die auf die Betreuung dieser Patientinnen spezialisiert sind.“

Daniela Dörfler, Gynäkologin und Leiterin der Krisenambulanz, Universitätsklinik für Frauenheilkunde des AKH Wien-Medizinische Universität Wien: „Es war eine spannende und wichtige interdisziplinäre Arbeit, um diese Handlungsempfehlungen zu FGM/C gemeinsam zu erstellen. Daraus soll eine Leitlinie, die den deutschsprachigen Raum abbildet, erarbeitet werden. Durch unseren Leitfaden soll Awareness zu den FGM/C Thema in allen Berufsgruppen geschaffen werden.“

Umyma El Jelede, psychosoziale und Gesundheitsberaterin im Frauengesundheitszentrum FEM Süd: „Viele betroffene Frauen zögern, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sei es, weil sie die gesundheitlichen Folgen von FGM nicht als Problem erkennen oder weil sie Angst vor Stigmatisierung und kulturellem Unverständnis haben. In diesem Zusammenhang fungieren kultursensible Beratungsstellen als zentrale Drehscheibe: Sie klären die Frauen über mögliche gesundheitliche Folgen von FGM auf und vermitteln sie frühzeitig an spezialisierte medizinische Einrichtungen weiter.“

Hilde Wolf, Psychologin und Leiterin des Frauengesundheitszentrums FEM Süd: „In Hinblick auf die psychischen Folgen von FGM/C wird häufig ein andauerndes Gefühl von Stress mit Konzentrationsschwierigkeiten, Gedächtnisproblemen und erhöhter Reizbarkeit beschrieben. Die Fähigkeit sich zu freuen, zu lieben oder zur Trauer ist teilweise eingeschränkt. Der Kontakt zum eigenen Körper und das Spüren der dazugehörigen Empfindungen ist oftmals verloren gegangen, die Frauen distanzieren sich so von nicht-integrierbaren, schmerzhaften Erinnerungen. Sie wünschen sich wieder Kontrolle über ihren Körper und ihr Leben - in der psychologischen Behandlung werden die Betroffene dabei unterstützt, diese Kontrolle wiederzuerlangen.“

Handlungsempfehlungen zur Betreuung von FGM-betroffenen Frauen und Mädchen in Österreich:

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