Historischer Rückblick aus dem Jahr 1945

Zusammenfassungen von Meldungen der Rathauskorrespondenz

1945: Das Jahr der Entscheidung

Der Jahresbeginn 1945 steht für die Wienerinnen und Wiener im Zeichen von Hunger, Kälte und vor allem Angst davor, was noch passieren wird.

Der "totale Krieg", den Reichspropagandaminister Joseph Goebbels am 18. Februar 1943 im Namen des Führers Adolf Hitler verkündet hat, nimmt seinen Lauf. Aus dem Westen, Süden und Osten kommen die aliierten Truppen immer näher an das Großdeutsche Reich heran. Der Großteil der Gebiete, die einst von der Deutschen Wehrmacht erobert wurden, ist wieder befreit.

In Wien hoffen alle, außer ein paar fanatischen Nationalsozialisten, dass der Stadt das Schicksal von Budapest erspart bleibt. Dort erkämpft die Rote Armee gegen starken Widerstand Haus um Haus, Straße um Straße, mit vielen Toten auf beiden Seiten und unter der Zivilbevölkerung. Die Schlacht um Budapest dauert schon mehr als zwei Monate; sie sollte erst Mitte Februar mit der Befreiung der ungarischen Hauptstadt zu Ende sein.

Die Gebiete, die noch unter deutscher Herrschaft stehen, sind das Ziel schwerer Luftangriffe durch amerikanische und britische Bomberverbände, seit März 1944 auch Wien. Diese Luftangriffe, die nicht nur Fabriken und Verkehrseinrichtungen, sondern auch Wohnviertel und Kulturstätten betrafen, hatte Deutschland mit den schweren Bombardements von Warschau, Rotterdam, Belgrad und vor allem England begonnen, mit dem Motto "Wir werden ihre Städte ausradieren". Nun kam die zehnfache Vergeltung auf die Städte Deutschlands (und damit auch Österreichs). Deutschland setzt dagegen die "Wunderwaffen" V 1 und V 2 ein, Raketengeschosse ohne Zielgenauigkeit, die nahezu wirkungslos bleiben und mehr der Propaganda dienen.

Die Mehrheit der Männer von 17 bis 50 Jahren ist zur Wehrmacht eingezogen, auch manche der Älteren. Die Burschen mit 15 und 16 Jahren dienen mehrheitlich als sogenannte Flakhelfer (Fliegerabwehrkanonen) und sind in der näheren und weiteren Umgebung Wiens kaserniert.

Viele Mädchen gleichen Alters müssen dabei Küchen- und Reinigungsdienst leisten. Alle Männer, die nicht im Kriegseinsatz stehen, sind zur Arbeit verpflichtet, ebenso die Frauen von 17 bis 60 Jahren. Der Einsatz erfolgt meist in Rüstungsbetrieben. Die Begrenzung der Arbeitszeit ist gestrichen, Urlaub ist verboten, jede vom Gefolgschaftsführer befohlene Arbeit ist auszuführen.

Löhne und Gehälter sind wie vor dem Krieg. Aber das Geld ist nichts wert, denn man bekommt so gut wie nichts mehr zu kaufen. Ausgenommen sind die Lebensmittel, die man auf die jeweils für vier Wochen geltenden Lebensmittelkarten beziehen kann. Theoretisch bekommt der "Normalverbraucher" 1.600 Kalorien pro Tag. Aber es ist schon Gewohnheit geworden, dass es statt Fleisch nur saure Rüben oder statt Brot nur Hülsenfrüchte oder statt Erdäpfeln nur Trockengemüse gibt. Milch und Fett sind oft tagelang nicht erhältlich, Ersatz dafür gibt es nicht. Man erhält auch kein Obst, kein Gemüse außer Rüben, allenfalls eine Sonderzuteilung von einem Ei im Monat.

Es gibt kein Brennmaterial. Die Gasversorgung wird täglich für einige Stunden unterbrochen.

Tausende Wienerinnen und Wiener sind in Konzentrationslagern und Gefängnissen eingesperrt. Im Wiener Landesgericht gehören die Hinrichtungen zur Gefängnisroutine. Geköpft werden Menschen, weil sie einen Witz über Hitler erzählt haben und weil sie einen ausländischen Rundfunksender gehört haben oder weil sie Geld für die Familie eines verhafteten Kollegen gespendet haben.

Die Ausschaltung der Wiener Juden, die als Vertreibung begonnen hatte und als Massenmord fortgesetzt wurde, war nahezu abgeschlossen. Kurz vor Kriegsbeginn, bei der Volkszählung vom 17. Mai 1939, wurden in Wien noch 91.480 Juden registriert. Am 7. Jänner 1945 waren es nur mehr 5.352. Diese Juden konnten wegen des Kriegsverlaufs nicht mehr in die Vernichtungslager in Polen und der Sowjetunion geschickt werden, wo die meisten der anderen ermordet wurden.

An der Spitze der Wiener Stadtverwaltung stand der aus Berlin stammende Reichsstatthalter und Gauleiter Baldur von Schirach. Es gab keine gewählten Organe der Stadt, der Wiener Bürgermeister namens Blaschke war nur ein Handlanger Schirachs, die ebenfalls nicht gewählten, sondern ernannten Stadträte und Ratsherren waren alle Funktionäre der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) und zu absolutem Gehorsam verpflichtet. Am Abend versank Wien in völliger Dunkelheit. Um feindlichen Flugzeugen keine Orientierung zu ermöglichen, war seit Kriegsbeginn die totale Verdunklung angesagt. Aus den Fenstern durfte nicht der kleinste Lichtschein dringen. Autoscheinwerfer mussten bis auf einen winzigen Lichtpunkt abgedunkelt sein. Die Straßenbahnen fuhren mit dunkelbau gestrichenen Fenstern, die keinen Lichtschimmer durchließen. Straßenbeleuchtung war verboten, ebenso natürlich alle Lichtreklame oder Auslagenbeleuchtung. Kriminelle hatten es leicht.

Die ärgsten Kriminellen waren allerdings jene, die den Staat führten und einen längst verlorenen Krieg fortsetzten, um ihre Herrschaft noch für einige Wochen zu verlängern - um den Preis von Hunderttausenden Menschenleben. Dabei wurde immer öfter davon geflüstert, dass Österreich die letzte Zufluchtsstätte der Nationalsozialisten sein werde, als unbezwingbare "Alpenfestung", von der aus mit neuen Wunderwaffen der siegreiche Gegenangriff beginnen werde. Es gab ein paar, die diese Geschichten glaubten.